Insektensterben in Mitteleuropa
Ab 1750 hat man in Mitteleuropa mit der ganzjährigen Stallhaltung begonnen. Der anfallende Stallmist wurde für die Felder gebraucht. Wiesen blieben ungedüngt, wurden im Frühjahr mit Vieh bestoßen und im Sommer meist nur einmal gemäht, um Heu für den Winter zu gewinnen und von ganz armen Wiesen Einstreu für den Stall.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Düngung mit Chilesalpeter. Stallmist war immer noch sehr wichtig, aber die Dreifelderwirtschaft wurde aufgegeben. Brachen, die vielen Insekten einen Lebensraum boten, gab es nun kaum mehr. Erst als 1910 das Haber-Bosch-Verfahren zur künstlichen Gewinnung von Ammoniak entwickelt wurde, begann die Ära des Kunstdüngers. Stallmist wurde zunehmend bedeutungsloser, fiel aber immer noch in großen Mengen an. Nun konnte man es sich leisten, Stallmist in Form von Gülle auf die Wiesen zu verbringen.
Raupen vertragen keine Stickstoff-Überdüngung und überdüngte Wiesen verarmen biologisch extrem. Zudem können nur wenige stickstoffliebende Pflanzen auf überdüngten Wiesen überleben. Auf gedüngten Wiesen geht der Reichtum an Insekten also sehr stark zurück. Je stärker mit Gülle gedüngt wird, umso mehr verarmen diese.
Ebenfalls begann man ab der Mitte 19. Jahrhundert allmählich mit dem sogenannten „naturnahen Waldbau“, der alles ist, nur nicht naturnah. Vielmehr dient er möglichst hohem Ertrag der Forstwirtschaft. Die Bäume stehen nun so dicht, dass kaum mehr Licht auf den Boden kommt. Die meisten Waldschmetterlinge sind aber Lichtwaldarten oder auf Saumstrukturen im Wald (Waldmantel, Waldsaum) angewiesen. Im geschlossenen Hochwald können diese nicht mehr überleben. Vorher weidete das Vieh auch im Wald und durch Nieder- und Mittelwaldbewirtschaftung war der Wald sehr licht – und entsprechend artenreich. Solche Waldstrukturen gibt es heute kaum mehr wo, weil die Forstwirtschaft auf maximalen Ertrag ausgerichtet ist. Ebenfalls der Ertragsoptimierung sind Übergänge im Wald, also der Waldmantel, zum Opfer gefallen. Der Wald geht übergangslos bis zum Waldweg bzw. zum Waldrand. Damit haben die Waldmantelarten unter den Schmetterlingen auch keine Habitate mehr. Durch Stürme wie Wiebke und Lothar wurde der Wald gelichtet und für einige Jahre hatten die Waldschmetterlings-Arten wieder eine kurze Phase der Regenerierung. Aber die lichten Stellen wurden schnell wieder aufgeforstet, zumeist mit Fichten.
1892 wurde von Bayer mit Dinitro-o-kresol das erste Insektizid entwickelt, 1939 kam DDT dazu. Nach dem 2. Weltkrieg begann der Siegeszug der Insektizide. Mit Einführung der Neonicotinoide in den 1970er-, verstärkt in den 1990er-Jahren kamen Insekten noch viel stärker in Bedrängnis. Im intensivlandwirtschaftlich genutzten Terrain überleben in den letzten Jahren kaum mehr Schmetterlinge. Gerade die „Allerweltsarten“, die bis um die Jahrtausendwende noch recht häufig waren, gehen jetzt sehr stark zurück. Heute sind es vor allem eher seltene Arten, die in Schutzgebieten leben, die es noch etwas zahlreicher gibt, weil ihnen die Intensivlandwirtschaft nicht so sehr zusetzt.
Seit 2017 setzt zudem der Klimawandel den Insekten massiv zu. Das war der nächste und bislang letzte Tiefschlag. Unsere heimischen Arten sind nicht an mediterrane Dürreperioden angepasst. Einige wenige Arten, wie der Karstweißling, breiten sich nun aus Südeuropa zu uns aus, aber insgesamt geht der Individuenreichtum sehr stark zurück. Alleine in den Hochlagen der Alpen gibt es noch verbreitet einen Reichtum an Arten und Individuen. Ansonsten sterben viele Arten aus, andere gehen in der Individuendichte so stark zurück, dass man nur noch Einzelfalter sieht.
Gegen das Insektensterben helfen würde nur ein tiefgreifender Wandel in der Land- und Forstwirtschaft. Aber der ist ebenso wenig zu erwarten, wie dass die Menschheit entschlossen gegen den Klimawandel vorgeht. M. E. ist es daher nicht fünf vor zwölf, sondern Viertel nach eins. Also für eine Rettung der Insekten bereits viel zu spät.
Hinzu kommt seit 1980 mit der Bundesartenschutzverordnung eine völlig verfehlte Naturschutzpolitik, die die weitere Erforschung der Insektenwelt stark einschränkt und vor allem Kinder und Jugendliche von der Natur fernhält. Daher sind Insektenforscher heute ebenso vom Aussterben bedroht, wie die Insekten. Hierzu ein Beispiel: Wenn ein Landwirt Mohrrüben anpflanzt, woran der gesetzlich geschützte Schwalbenschwanz Eier ablegt, dann darf er diese mit Insektiziden gegen den Raupenfraß schützen. Das nennt sich ordnungsgemäße Landwirtschaft. Wenn er aber eine einzelne Raupe von den Mohrrüben pflückt und sie seiner Tochter, die Biologie-Lehrerin ist, gibt, damit diese sie in den Unterricht mitnimmt, dann machen sich beide strafbar. Denn das Töten der Raupe zum Zweck des Schutzes des Gemüses ist erlaubt. Das Einsammeln zu Unterrichtszwecken bedarf der amtlichen Genehmigung. Daher fällt es zunehmend weniger auf, wenn Insektenarten seltener werden und aussterben. Denn es mangelt zunehmend an Experten, die die einzelnen Arten unterscheiden können.
Verfasser: Jürgen Hensle, Mai 2020